Die Mittelmeer-Zypresse (Cupressus sempervirens) ist ein immergrüner Baum und wird auch Säulen-Zypresse, Echte Zypresse oder Trauer-Zypresse genannt. Sie ist eine Art innerhalb der Familie der Zypressengewächse (Cupressaceae). Zypressen-Arten findet man in allen warmen Klimazonen der nördlichen Hemisphäre.
Wie andere Zypressen-Arten zeigt die Mittelmeer-Zypresse unter günstigen Bedingungen ein erstaunliches Höhenwachstum und kann in 10 Jahren 4 bis 6 Meter erreichen. Sie gilt als Vorwald- und Pionierbaumart, denn sie ist sehr anpassungsfähig und dürreresistent und wächst sowohl auf Kalk-, Mergel- und Tonböden, wie generell an trockenen und armen Standorten. Das ursprüngliche Verbreitungsgebiet dieses Baumes umfasste den östlichen Mittelmeerraum. Es erstreckt sich dabei über Griechenland, die Ägäischen Inseln, Kreta, Zypern, Syrien, Israel, Zilizien sowie über den Libanon bis in den südwestlichen Iran. Die Art wurde bereits in der Antike in Italien und später in Frankreich und Spanien eingeführt. In Deutschland sind Zypressen nicht heimisch.
Das angenehm riechende und leicht zu bearbeitende Holz der Mittelmeer-Zypresse ist von feiner Struktur und leicht rötlicher Farbe. Es ist hart, dichtfaserig und sehr haltbar. Während der Antike wurde es für Pfosten, Dachsparren, Balken und für die Konstruktion von Weinpressen, Tischen und Musikinstrumenten verwendet und war in dieser Hinsicht so wertvoll, dass eine Zypressenplantage als zureichende Mitgift für eine Tochter galt. In den alten Kulturen Assyriens wurde es als würdiges Material für Statuen, Tempeltüren und Sarkophage geschätzt. Auch Zauberstäbe zur Nekromantie (Totenbeschwörung) wurden aus Zypresse hergestellt. Aus den Blättern und den jungen Zweigen wird durch Wasserdampfdestillation das ätherische Öl gewonnen. Öl und Holz der Zypresse wurden aufgrund ihrer antibakteriellen Eigenschaften auch bei der Bekämpfung von Seuchen eingesetzt.
In der osmanischen Kultur gilt die Zypresse als Lebensbaum. Ihre Gestalt schmückt türkische Brunnen, Grabsteine und Gebetsteppiche. Stellt man ihre Zweige in eine Vase, so halten diese das Wasser wochenlang frisch und es verdunstet auch kaum. Für die Griechen der Antike war sie ein Symbol der Trauer und gleichzeitig der Metamorphose als Zusammenkunft von Leben und Tod, von Gedächtnis und Vergessen. Sie blieb auch in christlichen Zeiten ein immergrünes Symbol der Langlebigkeit und der Unsterblichkeit der Seele.
Nach orphischer Überlieferung entspringen in der Unterwelt zwei Flüsse: zur Rechten die Quelle der Erinnerung, Mnemosyne; und zur Linken Lethe, Fluss des Vergessens – mäandernd zu Füßen einer weißen Zypresse.
Eine weitere berühmte literarische Quelle für das Mythologem um Trauer und Metamorphose ist die Geschichte von Kyparissos, Sohn des arkadischen Helden Telephos und ein Geliebter Apollons. In jugendlicher Jagdlust tötet er versehentlich sein eigenes Haustier, einen zahmen Hirschen, welcher unter dem Schutz der Nymphen Carthaeas steht. Untröstlich über seinen Irrtum trauert Kyparissos und wird daraufhin von Apollon in die Gestalt der nach ihm benannten Zypresse verwandelt:
„Als nun gänzlich das Blut durch ständiges Weinen erschöpft war,
Da hub an sich in Grün zu verwandeln der Körper des Knaben;
Das an der schneeigen Stirn noch eben gehangen, das Haupthaar,
Wurde zu struppigem Laub und schaute, behaftet in Starrheit
Zu den Gestirnen empor mit schmal zugehendem Wipfel.
Schmerzlich seufzte der Gott und sprach: „Stets sollst du betrauert
Werden von uns und, nah den Bekümmerten, andre betrauern.“
(Ovid, Metamorphosen; Übersetzung R. Suchier)
Die von uns verräucherte Zypresse wurde in unmittelbarer Nähe des apollinischen Ringhallen-Tempels in Delphi gepflückt. Die heute noch sichtbaren Ruinen mit den sechs wieder aufgerichteten dorischen Säulen sind die Reste des 320 v. Chr. vollendeten Tempels, welcher auch der Sitz des Orakels von Delphi war. Im Adyton, dem Allerheiligsten des Tempels, saß die Pythia auf einem Dreifuß über einer Erdspalte, aus der Gase austraten. Die Dämpfe, quasi aus dem Nabel der Welt, versetzten die Pythia in einen Trancezustand, in welchem sie die Orakelsprüche des Gottes verkündete, die daraufhin von Priestern den fragenden Gläubigen übermittelt wurden. Den antiken Geschichten zufolge waren darunter u.a. Ödipus, Gyges, Krösus, Pyrrhos und Alexander der Große. Hat man die psychedelische Wirkung der Pflanze einmal an sich selbst erfahren, so ist man gerne bereit anzunehmen, dass auch Räucherungen von Cupressus sempervirens dabei eine Rolle spielten.
Oreibasios, Arzt und Verfasser einer 72-bändigen auf den Schriften Galenos beruhenden, medizinischen Enzyklopädie (Συναγωγία ἰατρική Synagōgía iatrikḗ „ärztliche Zusammenkunft“), soll im Jahre 362 auf Kaiser Julians Befehl das Orakel besucht haben. Davon berichten der byzantinische Historiker Kedrenos und die spätantike Artemii Passio. Phytia weissagte zum letzten Mal und beschied ihm, dass das Orakel von nun an für immer schweigen müsse:
Εἴπατε τῷ βασιλεῖ, χαμαὶ πέσε δαίδαλος αὐλά, οὐκέτι Φοῖβος ἔχει καλύβην. Οὐ μάντιδα δάφνην, οὐ παγὰν λαλέουσαν, ἀπέσβετο καὶ λάλον ὕδωρ.
„Sag deinem Kaiser: gefallen ist die prächtige Halle, Phoibos hat kein Haus. Auch nicht den weissagenden Lorbeer noch die murmelnde Quelle, auch das Wasser ist verstummt.“
Delphi, seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. eines der größten panhellenischen Heiligtümer, welches regelmäßig Reisende aus dem gesamten Mittelmeerraum empfing, verlor allmählich seine zentrale religiöse Bedeutung, bis 394 n. Chr. Theodosius I., Kaiser von Rom und Byzanz, die Delphischen Spiele als heidnische Veranstaltung verbot.