Artemisia absinthium L., Gemeiner Wermut oder auch Wermutkraut (engl. Wormwood, griech. Αρτεμισία το αψίνθιο), hat ihr natürliches Vorkommen in den gemäßigten Regionen Eurasiens sowie in Nordafrika. Obschon die Pflanze auch hierzulande oft anzutreffen ist und sie zu den seit Jahrhunderten in Klostergärten kultivierten Heilkräutern zählt,

 

wird sie aufgrund ihres recht unscheinbaren Äußeren von vielen Waldgängern nicht erkannt. In botanischen Gärten sind die Exemplare durch die Besucher oft komplett abgepflückt und es ist nur noch wenig zu sehen. Wermut bleibt meist von krautigem Wuchs und erreicht Höhen von ca. 40-60cm, selten auch über einen Meter. Aus einem waagerecht wachsenden Rhizom gehen die aufrechten dicht beblätterten Sprossen hervor, die am Grund manchmal verholzen und sich im oberen Bereich mehrfach verzweigen.

Die Pflanze entwickelt in hochkonzentrierter Form Bitterstoffe, als Hauptkomponente das Absinthin. Ihre ätherischen Öle enthalten Thujon, das vielen aus den Prozentangaben auf Absinth-Flaschen bekannt sein dürfte und hauptursächlich verantwortlich gemacht wird für die heilenden und gesundheitsschädlichen Wirkungen des Absinths. Aufgrund der in Deutschland geltenden Grenzwerte für den Thujon- und damit auch den Wermutgehalt in Absinthschnäpsen ist es selbst standfesten Trinkern kaum möglich, ohne einen tiefen Alkoholrausch die Effekte des Wermuts zu ergründen. Hält man sich aber an mittelalterliche Anweisungen zur Räucherprozedur, wie sie beispielsweise das Speyerer Kräuterbuch oder Hildegard von Bingen formulieren, so entfallen die überlagernden Nebeneffekte durch Alkohol.

Grab von Toulouse-Lautrec, Verdelais

Bereits im Altertum wurde die Wermutpflanze für ein sehr weites Indikationsspektrum medizinisch eingesetzt, so gegen Menstruationsbeschwerden, Leber- und Nierenschäden, Gelbsucht, Verdauungsbeschwerden und vieles andere mehr. Bereits eines der ältesten erhaltenen Schriftstücke der Menschheit, der altägyptische Papyrus Ebers (ca. 1600 v. Chr.), nennt mehrfach den Wermut als medizinisch-magische Pflanze („Somi“ bzw. „Saam“).

Seite aus dem Papyrus Ebers

Auch die Autoren der griechischen Antike verwiesen häufig auf die ägyptische bzw. kleinasiatisch-griechische kulturelle Verbreitung der Pflanze. Dioskurides berichtet von ihrer rituellen Funktion bei den Ägyptern, Theophrast erzählt von den Schafen am Pontus, die durch das Fressen von Artemisia ihre Galle verlören. In Griechenland war Wermut wohl die wichtigste unter den der Jagd- und Waldgöttin Artemis geweihten Artemisia-Arten, auch wenn bei den griechischen und römischen Autoren nicht immer ganz klar ist, um welche Artemisia-Art es sich handelt und zudem die Etymologie des Pflanzennamens nicht eindeutig geklärt werden kann. Artemis, die Zwillingsschwester des Apollon und Tochter der Leto, gehörte zu den 12 ursprünglichen olympischen Gottheiten. Bei ihrer Geburt auf Delos duftete der Sage nach die gesamte Insel, und Schwäne umkreisten den Ort. Als jungfräulich-nymphenhafte und gleichzeitig fruchtbringende Gestalt ist Artemis assoziiert mit den Anwendungsgebieten des Wermuts in den medizinisch-mythologischen Therapiefeldern der Menstruation, Schwangerschaft, der Geburt und des Wochenbetts. Ihre Lieblingstiere sind Hirsch, Eber und Wolf.

Artemis, Delos

In ihrer Rolle als Beschützerin der jungen Mädchen (arktoi genannt, d.h. Bärinnen) entwickelt Artemisia Unglück bringende Qualitäten. Den Jäger Aktaion verwandelt sie strafend in einen Hirsch, als er sie und die mit ihr wandelnden Nymphen voyeuristisch beim Bade überrascht; Aktaion wird daraufhin von seinen 50 Hunden zerrissen, die ihn in Tiergestalt nicht mehr erkennen. Auf diese Weise ist Artemisia und mit ihr der Absinth mit Zauberformeln und magischen Flüchen verbunden.

Fluchtafel

Der für die nachantike, sowohl islamische wie auch christliche Weiterführung der griechisch-römischen Kräuterrezepturen wichtigste Mediziner und Pharmakologe ist Galenos von Pergamon. In seinen humoralpathologischen Erörterungen geht er von den vier Elementen in der Natur, den vier Säften im menschlichen Körper und den vier Qualitäten der heilenden Substanzen aus. Dem Wermut schreibt er die Qualität warm und trocken zu und als Sekundärqualität Bitterkeit. Diese therapeutische Einschätzung des Wermutkrauts wird dann im Mittelalter übernommen, so etwa durch Hildegard von Bingen, Konrad von Megenberg und den italienischen Kräutergelehrten Pierre Andrea Mattioli.

In Hildegard von Bingens medizinischer Kräuterkunde nimmt der Wermut eine zentrale Stelle ein, geradezu die einer klassischen Universalmedizin. Sie verband dabei die Volksmedizin mit den Anweisungen aus der griechisch-römischen Antike bzw. den im 9. Jahrhundert durch arabische Gelehrte angefertigten Übersetzungen dieser Texte.

Hildegard von Bingen, Liber Divinorum Operum

Viele Jahrhunderte bevor man im spätnachmittäglichen Paris von der „l’heure de l’absinthe“ zu sprechen begann, wurde das Kraut bereits alkoholischen Getränken zugefügt. Hildegard und das Speyerer Kräuterbuch geben Anweisungen zu Wermuttränken, -salben, -pflastern, -umschlägen – und Wermuträucherungen. Darüber hinaus empfiehlt sie es gegen Hexen und Dämonen als wirksames Mittel.

Nicht nur im Rheinland, sondern auch im Heimatland der Göttin Artemisia, in Griechenland, erhielt sich eine medizinisch-spirituelle Verbindung zu der ihr geweihten Pflanze. Als zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Hinzufügung von Artemisia absinthium bei der Schnapsbrennerei in Griechenland eingeschränkt wurde, verschaffte dies dem Ouzo einen großen Auftrieb (ähnlich wie beim Pastis in Frankreich). Man sprach von „Absinth ohne Wermut“.

„Absinth ohne Wermut“
Albert Gantner, Supression de l’Absinthe en Suisse, 1910